- Minnesang und Spruchdichtung: Ideal und Wirklichkeit
- Minnesang und Spruchdichtung: Ideal und WirklichkeitNeben der ritterlichen Epik war der Minnesang die zweite große Schöpfung der höfischen Kultur im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Die Liebeslyrik ist ein internationales und überzeitliches Phänomen, und schon im Frühmittelalter muss dieses Genre sehr beliebt gewesen sein. Vereinzelte volkssprachige Textzeugnisse für die Liebeslyrik finden sich in der mittellateinischen Literatur, zum Beispiel im Epos »Ruodlieb« und vor allem in der »Vagantendichtung«, die an die antike Tradition, etwa die Liebesdichtung Ovids, anknüpfte und deren berühmteste Sammlung die in Benediktbeuren aufgefundenen »Carmina Burana« aus dem 13. Jahrhundert sind. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts entstand im bayrisch-österreichischen Donauraum eine Liebeslyrik. Die Dichter Dietmar von Aist, Der von Kürenberg, die Burggrafen von Regensburg und Riedenburg gehörten mit großer Wahrscheinlichkeit dem weltlichen Adel an. Formal und inhaltlich unterschied sich diese Lyrik aber noch deutlich vom eigentlichen Minnesang, zum Beispiel durch die altertümliche Langzeilenstrophe oder durch das unbefangene Werben der Frau um den Mann.Der Minnesang wurde dann in den Siebzigerjahren des 12. Jahrhunderts von vorwiegend aus dem Rheinland und dem deutschen Südwesten stammenden Dichtern im Umkreis der Stauferkaiser Friedrich I. und Heinrich VI. geprägt. In den Liedern eines Friedrich von Hausen und seiner »Schule«, eines Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Albrecht von Johansdorf und Rudolf von Fenis wirbt das lyrische Ich, ein »Ritter«, in dem Vasallentum entlehnten Begriffen wie »Dienst« und »Lôn« um die Gunst einer als »Vrouwe« (= Herrin) angesprochenen Dame, wobei es allerdings nicht Erhörung, sondern bestenfalls ein bescheidenes Zeichen der Anerkennung (»gruoz«) erwarten kann. Mehrere Paradoxa charakterisieren diese typische Grundsituation der »Hohen Minne«. Die Liebe zur angebeteten Frau ist eigentlich heimlich, wird aber dennoch öffentlich vorgetragen. Obwohl die Frau in der Realität unter der Vormundschaft des Mannes stand, wird sie im Minnelied ins Überirdische erhöht, mit der Göttin Venus verglichen (wie zum Beispiel bei Heinrich von Morungen) oder mit Attributen versehen, die an die zeitgenössische Marienverehrung gemahnen. Trotz der programmatischen Aussichtslosigkeit des Werbens ist die Liebe dennoch nicht platonisch, sondern trägt immer die Hoffnung auf sexuelle Erfüllung in sich. Das lyrische Ich wiederum bewirkt eine freudige Stimmung beim Publikum (»hoves vreude«), indem es aus seinem Leid sittliche Vervollkommnung erfährt oder - wie bei Reinmar dem Alten (Reinmar von Hagenau) - seine Trauer gar zu einer ästhetischen Lebensform stilisiert.Dieses ritualisierte und thematisch sehr eingeschränkte »literarische Gesellschaftsspiel« bot zwar in sich Möglichkeiten der Grenzüberschreitung wie zum Beispiel die »Dienstaufkündigung« zugunsten einer anderen, wohlwollenderen Dame beziehungsweise zugunsten der Ritterpflichten - die Teilnahme an den Kreuzzügen - oder die Fiktion einer erfüllten Liebesbeziehung wie in der Gattung des »Tageliedes«, doch bedurfte es der Begabung, des Selbstbewusstseins und der Radikalität eines Walther von der Vogelweide, um den Minnesang im beginnenden 13. Jahrhundert auf eine neue Basis zu stellen. Der um 1170 geborene Dichter begann seine Karriere am Hof der Babenberger mit konventionellen Liedern im Stil Reinmars des Alten, wandte sich aber bald polemisch gegen dessen Minnekonzeption. So postuliert Walther in seinen »Preisliedern« neue Maßstäbe und Qualitäten des Frauenpreises, weist - unter Umkehrung einer Aussage Reinmars - die unnahbare Dame in ihre Schranken, indem er ihr klarmacht, dass ihr Ruhm vom Sänger herrühre und auch mit diesem vergehe: »stirbe ab ich, so ist si tôt«, und setzt, wie im berühmten Lied »Under der Linden«, dem hoffnungslosen Werben das Ideal einer erfüllten Liebesbeziehung mit einem einfachen, aber trotzdem als »Vrouwe« apostrophierten Mädchen entgegen. Die Utopie der »Herzeliebe«, der wechselseitigen, partnerschaftlichen Beziehung von Mann und Frau, steht dann im Mittelpunkt der folgenden Lieder.Die literaturgeschichtliche Bedeutung Walthers liegt nicht nur in der Erneuerung des Minnesangs, der durch ihn aus seiner Sterilität befreit wurde und individuellere Züge gewann, sondern auch in der Aufnahme des Sangspruchs, des typischen Genres der fahrenden Dichter, mit denen Walther von 1198 an für mehr als zwei Jahrzehnte das Los der weitgehenden Rechtlosigkeit und materiellen Unsicherheit teilen sollte. Der wegen der unterschiedlichen Publikumsinteressen breit gefächerte Gegenstandsbereich der mittelalterlichen Spruchdichtung reicht von der »Gnomik«, schon vorliterarisch greifbarer, sentenzartiger Unterweisung in Lebenspraxis und Weltklugheit, über Religiöses, Gönnerlob und -schelte bis hin zu Zeitkritik und aktueller politischer Propaganda. Was Walther nun von den späteren Spruchdichtern abhebt, sind nicht nur die besonderen Zeitumstände, die ihn sukzessive als Agitator im Dienste Philipps von Schwaben, Ottos IV. und Friedrichs II. sowie im Gefolge so mächtiger Persönlichkeiten wie des Landgrafen Hermann von Thüringen, des Markgrafen Dietrich von Meißen oder des Passauer Bischofs Wolfger von Erla auftreten ließen. Es ist auch die einzigartige Verbindung von poetischem Talent, rhetorischer Gewandtheit und einem ausgeprägten dichterischen Selbstbewusstsein. In der kunstvoll gebauten Triade des »Reichstons« Walthers denkt das lyrische Ich über die gestörte Ordnung des menschlichen Lebens, des Reichs und der Kirche nach. Die Kritik an Papst Innozenz III., der als macht- und geldgieriger Feind des Reiches karikiert und dem im Bild des Klausners das Ideal der urchristlich-reinen Kirche gegenübergestellt wird, zieht sich durch Walthers gesamte Spruchdichtung.Es wäre sicher falsch, Walthers politisches Engagement beziehungsweise seinen wiederholten Gönnerwechsel ausschließlich aus einem persönlichen Gefühl der Verantwortung für die Reichsidee zu erklären. Seine Spruchdichtung war, wie die anderer Fahrender, zweifellos Auftragsarbeit. Individuelle Stellungnahmen jedoch, insbesondere die Forderung nach einer angemessenen Entlohnung und eine allfällige Kritik an »geizigen« Gönnern, waren nicht ausgeschlossen, wie Walthers »Dienstaufkündigungen« an Philipp und Otto eindrucksvoll dokumentieren. Wie sehr er aber auch an den Entbehrungen und Unsicherheiten des Lebens eines Fahrenden litt, zeigen zum Beispiel seine Klagen über die kärgliche Bewirtung im Kloster Tegernsee oder über den erfolglosen Rechtsstreit mit Gerhart Atze am Thüringer Hof, aber auch sein Jubel über das um 1220 von Friedrich II. erhaltene Lehen. Die höfische Lyrik hatte mit Walther von der Vogelweide - wie der höfische Roman mit Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg - ihren Höhe- und Wendepunkt erreicht. Bald gingen aber, wiederum vom Wiener Hof, mit den Liedern Neidharts von Reuental »neue Töne« aus, die eine der wesentlichen Stilrichtungen der Folgezeit bilden sollten.Dr. Bernd SteinbauerDeutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearbeitet von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 21984.
Universal-Lexikon. 2012.